Der chronische hat im Gegensatz zum akuten Schmerz seine eigentliche Warnfunktion verloren. Die Auslöser sind meist nicht mehr nachvollziehbar. Von chronischen Schmerzen wird gesprochen, wenn diese über mehrere Monate hinweg bestehen. Diese führen häufig zu einem hohen Leidensdruck und können psychische Veränderungen wie Depressionen und Ängste nach sich ziehen. Anders als akute Schmerzen sind chronische Schmerzen schwer lokalisierbar und werden als „wandernd“ oder „schwammig“ beschrieben.
Bei dieser Form der Schmerzen handelt es sich aus Sicht der TCM um eine Leere.
Inflammatorischer Reflex
Bei länger anhaltenden Schmerzen werden Noradrenalin, Adrenalin und Kortisol vom Körper ausgeschüttet. Die Hormone Noradrenalin und Adrenalin werden im Nebennierenmark gebildet und in Stresssituationen (z. B. Angst, Wut, Aggression) freigesetzt. Sie wirken auf das Herz-Kreislauf-System und verursachen eine Vasokonstriktion der Gefäße und einen Anstieg des Blutdrucks. Das Hormon Kortisol hat eine antiinflammatorische Wirkung. Bei einer länger andauernden Ausschüttung von Kortisol, z. B. durch Stress und/oder Krankheit, kommt es zu einer erhöhten Infektanfälligkeit, zu Wundheilungsstörungen, Muskelschwäche und Konzentrationsproblemen.
Der inflammatorische Reflex des vegetativen Nervensystems regelt immunologische und entzündliche Vorgänge im Körper (Quelle: Tracey KJ. The inflammatory reflex. Nature 2002; 420(6917): 853–859). Bei starken bzw. lang anhaltenden Reizen wie Stress, Entzündungen oder Störfeldern kommt es zu einer Fehlregulation dieses Reflexes. Das vegetative Nervensystem kann dann schwerer auf äußere Reize reagieren.
Zu den Stressauslösern gehören körperlicher und emotionaler Stress sowie körperliche Dauerbelastungen, Depressionen oder Burn-out.
Entzündungen können sich direkt oder indirekt äußern: Direkte Entzündungen zeigen die typischen Entzündungezeichen. Indirekte bzw. niederschwellige Entzündungen liegen „versteckt“ im Körper vor („silent inflammation“).
Zu möglichen Auslösern einer niederschwelligen Entzündung zählen z. B. verbliebene Erregertoxine nach einer Borrelioseinfektion oder Entzündungsherde aufgrund von Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa. Störfelder können z. B. Narben jeglicher Art, Sinusitiden, Tonsillitiden, Gallenblasen- und Prostataerkrankungen oder Dysbiosen des Darms sein.
Eine Fehlregulation des vegetativen Nervensystems und das Vorhandensein niederschwelliger Entzündungen fördern die Entwicklung chronischer Schmerzen.
Dieser Mechanismus könnte auch ein Erklärungsmodell für die Entstehung von Autoimmunerkrankungen (z. B. Morbus Parkinson, multiple Sklerose) bieten.
Internistische Erkrankungen und chronische Schmerzen im Bewegungsapparat
Internistische Erkrankungen zeigen sich nicht nur in den Organen selbst, sondern können Störungen in anderen Bereichen, z. B. orthopädische Erkrankungen, nach sich ziehen. Es folgen 2 Modelle, die diese Zusammenhänge veranschaulichen.
Pathogenetische Kausalketten. Schimmel (Quelle: Schimmel HW. Pathogenetische Grundmuster und Kausalketten. Gießen: Pascoe pharmazeutische Präparate GmbH; 1989) beschreibt pathogenetische Kausalketten als eine „Kettenreaktion“ zwischen Organen. Ist ein Organ erkrankt, wird folglich ein weiteres Organ in Mitleidenschaft gezogen usw. Anhand der primären Kausalketten lassen sich internistische Erkrankungen und chronische Schmerzen im Bereich unterschiedlicher Organe und dem Muskel- und Skelettsystem erklären (Tab. 10.1). Beispielsweise können sich über eine primäre Kausalkette des Organs „Galle“ Erkrankungen des Auges, der HWS oder der Schulter entwickeln.
Diaphragma-Zervikal-Reflex nach Radloff. Eine andere Herangehensweise in Bezug auf die Verbindung zwischen inneren Organen und orthopädischen Erkrankungen stellt der Diaphragma-Zervikal-Reflex nach Radloff dar. Dieser besagt, dass Erkrankungen der Atem- und Bauchorgane zu Schulter-, Nacken- und HWS-Beschwerden führen können (Quelle: Radloff K. Die chinesische Medizin kennt keine orthopädischen Krankheiten. Ideen und Lösungsansätze für Patienten und ihre Behandler. Norderstedt: Books on Demand; 2016). Dies resultiert aus der engen anatomischen Beziehung der Organe mit dem Zwerchfell.
Das Zwerchfell wird durch den N. phrenicus innerviert. Der Austritt des N. phrenicus befindet sich im Bereich von C3 und C4 der HWS. Motorisch innerviert er das Zwerchfell, sensibel das Perikard, das Herz, die Pleura parietalis (Partes mediastinalis und diaphragmatica) und das Peritoneum parietale (besonders der Leber, der Gallenblase und des Mageneingangs). Bei einer Reizung des Zwerchfells kommt es häufig zu Schulterschmerzen (Eiselsberg-Phänomen).
Der N. phrenicus entspringt dem Plexus cervicalis (C1–C4) und enthält außerdem Faseranteile des Plexus brachialis (C5). Die motorischen Äste des Plexus cervicalis versorgen die untere Zungenbein- und die vordere Halsmuskulatur, die sensiblen Äste den Hals, das Ohr, die Schulter und das Schlüsselbein. Der Austritt des Plexus brachialis befindet sich im Bereich von C5 bis Th1 der HWS und BWS. Dieser innerviert den Ober- und Unterarm, die Hände und Finger und den Schultergürtel.
Die Lokalisation der Schmerzen ist von der Lage der Organe abhängig (Quelle: Radloff K. Die chinesische Medizin kennt keine orthopädischen Krankheiten. Ideen und Lösungsansätze für Patienten und ihre Behandler. Norderstedt: Books on Demand; 2016) (Tab. 10.2). Dies lässt sich auf die rechts- und linksseitige Verzweigung des N. phrenicus zurückführen. Erkrankungen der Leber und Gallenblase führen beispielsweise zu Beschwerden der rechten Schulter. Begleitet werden die Schmerzen von Kälteempfinden, einer Vasokonstriktion der Gefäße, vermehrter Schweißsekretion und Verquellungen des Gewebes.
Segmentale Schmerzprojektion
Störungen innerer Organe können zu Schmerzempfindungen in weit entfernten Strukturen wie der Körperoberfläche führen. Man spricht vom übertragenen Schmerz („referred pain“), wenn die Schmerzen seiten- und segmentspezifisch auftreten, also auf die segmentale Innervation zurückzuführen sind.
Übertragungszonen. Bereits im Jahr 1962 konnten Hansen und Schliack die Wirkung segmentbezogener Bindegewebsmassagen belegen (Quelle: Hansen, K, Schliack H. Segmentale Innervation. Ihre Bedeutung für Klinik und Praxis. Stuttgart: Thieme; 1962). Zudem beschrieben sie hyperalgetische Übertragungszonen, d.h. Zonen mit einer gesteigerten Schmerzempfindlichkeit, die sich auf Erkrankungen innerer Organe zurückführen ließen. Erkrankungen des Magens haben beispielsweise einen Bezug zu den Segmenten Th5–Th9, Erkrankungen der Leber und der Gallenblase einen Bezug zu Th5–Th10 (Tab. 11.5; s. Segment-Taping).
Liegt eine Erkrankung innerer Organe vor, weisen die entsprechenden segmental zugeordneten Zonen eine veränderte Hauttemperatur und Feuchtigkeit, einen veränderten Muskeltonus sowie Strukturveränderungen wie Ödeme, „Verquellungen“ oder Verklebungen (verringerte Verschieblichkeit der Hautschichten) auf. Diese Veränderungen sind von Patient zu Patient unterschiedlich ausgeprägt.
Head-Zonen. Diese können sich über mehrere Dermatome, d.h. sensibel innervierte Hautgebiete, die jeweils von einem Rückenmarksegment versorgt werden, erstrecken. Ein Beispiel hierfür ist die Head-Zone „Herz“ mit den Dermatomen bzw. Segmenten Th3–Th4 (Tab. 11.2). Treten in Head-Zonen hyperalgetische Reaktionen auf, kann es neben Schmerzen zu einem Kribbeln oder Taubheitsgefühl kommen. Zudem weist das Gewebe Veränderungen der Beschaffenheit auf. Head-Zonen haben oft einen (schmerzhaften) Maximalpunkt. Dies bedeutet, dass Erkrankungen innerer Organe über die Head-Zonen sichtbar werden können, womit sie ein sehr gutes diagnostisches Hilfsmittel darstellen (s. Dermatom-Taping).
Mackenzie-Zonen. Werden viszeroafferente Reize auf die Muskulatur übertragen, spricht man von Mackenzie-Zonen. Hierbei handelt es sich – anders als bei den Head-Zonen – um Myotome (durch Spinalnerven innervierte Muskeln). In Mackenzie-Zonen liegen veränderte Reaktionen der Muskulatur, z. B. Tonusveränderungen, oder Bewegungs- und Druckschmerz vor. Ähnlich wie die Head-Zonen können sie Maximalpunkte aufweisen.
Behandlungsempfehlung
Head- und Mackenzie-Zonen weisen Überschneidungen ihrer Projektionen auf und sind wichtige diagnostische Kriterien, um Erkrankungen bzw. „Schwächen“ von Organen zu erkennen.
Hyperalgetische Zonen im Kopfbereich. Zusätzlich wurden hyperalgetische Zonen im Kopfbereich beschrieben (Quellen: Dittmar F, Dobner E. Die neurotopische Diagnostik und Therapie innerer Krankheiten. Ulm: Haug; 1961; Hansen, K, Schliack H. Segmentale Innervation. Ihre Bedeutung für Klinik und Praxis. Stuttgart: Thieme; 1962; Wancura-Kampik I. Segment-Anatomie. Der Schlüssel zur Akupunktur, Neuraltherapie und Manualtherapie. 3. Aufl. München: Urban & Fischer/Elsevier; 2010). Beispielsweise zeigen sich diese Zonen bei Erkrankungen der Leber über der rechten Augenbraue und rechtsseitig des Dermatoms C4, bei Erkrankungen des Herzes und des Magens am linken Dermatom C4. Bei Herzerkrankungen liegen die hyperalgetischen Zonen im Stirn- und Scheitelbereich, bei abdominalen Erkrankungen im Oberkiefer und bei Erkrankungen der Beckenorgane am Hinterhaupt und im Unterkiefer.
Nach Head projizieren sich die inneren Organe Leber, Gallenblase und Magen im Stirn- und seitlichen Kopfbereich, das Herz und die Lunge im gesamten Kopfbereich und die Leber und die Beckenorgane im Hinterhaupt.
Leitbahnen und Akupunkturpunkte
In Bezug auf die Akupunktur werden Wechselbeziehungen zwischen Yin- und Yang-Organen beschrieben. Energetisch starke Organe sind demzufolge in der Lage, die Schwäche anderer Organe zu kompensieren. Auch hier lassen sich Bezüge zwischen den Segmenten und den inneren Organen herstellen, die bei der Schmerzdiagnostik einbezogen werden können.
Blasenleitbahn und Rücken-Shu-Punkte. Die Blasenleitbahn hat 2 Blasenäste. Der innere Blasenast wird mit körperlichen und physischen, der äußere Blasenast mit emotionalen und psychischen Dysbalancen in Verbindung gebracht. Die Tab. 7.2 zeigt die Rücken-Shu-Punkte und ihre segmentale Zuordnung.
In der Tab. 10.3 sind die Zonen nach Hansen und Schliack sowie die Rücken-Shu-Punkte in der Akupunktur einander gegenübergestellt.
Oberer, mittlerer und unterer Erwärmer:
- Im oberen Drittel des Körpers gibt es einige Verbindungen zu den Segmenten und Rücken-Shu-Punkten. Dies entspricht dem oberen Erwärmer. Hierzu zählen das Herz, die Lunge, der Ösophagus und das Zwerchfell.
- Nach Verständnis der TCM umfassen die Leber und Gallenblase in Bezug auf die segmentale Zuordnung mehrere innere „westliche“ Organe. Hierzu zählen v. a. der Magen, die Bauchspeicheldrüse und der Dünndarm. Diese lassen sich im übertragenen Sinne zum mittleren Erwärmer zählen. Aus chinesischer Sicht beginnt dieser ebenfalls ab Th9.
- Aus westlicher Sicht gibt es durch die Segmenteinteilung einen fließenden Übergang in den unteren Erwärmer. Aus Sicht der TCM beginnt dieser ab L2 (Bl23, Niere). Das kleine Becken mit den Hoden, Ovarien, der Prostata und dem Uterus wird häufig über die Punkte des Ren Mai behandelt. Bei Stagnationen kann der Chong Mai geöffnet werden.
Zusätzlich werden Bl23 bei gynäkologischen und urogenitalen Erkrankungen sowie Bl27 und Bl28 bei chronischen und schmerzhaften urogenitalen Erkrankungen in die Behandlung einbezogen.
Disharmoniemuster. Aus Sicht der TCM können Disharmoniemuster im Leitbahnverlauf zu orthopädischen Erkrankungen führen bzw. diese begünstigen. In der Tab. 10.4 werden einige Beispiele für chronische Erkrankungen des Bewegungsapparats dargestellt. Diese können unterstützend mithilfe z. B. des Meridian- bzw. des klassischen Tapings behandelt werden.
Befunderhebung
Die segmentalen Zuordnungen sowie das Wissen über Head- und Mackenzie-Zonen geben Aufschlüsse über segmentale bzw. fasziale bindegewebige Veränderungen. Diese verhelfen wiederum zu Erkenntnissen über mögliche Erkrankungen bzw. „Schwächen“ innerer Organe und untermauern den persönlichen Befund.
Eventuelle Veränderungen können über die Palpation diagnostiziert werden. Beim Vorliegen eines übertragenen Schmerzes („referred pain“) treten neben Hyperalgesien weitere vegetativ-reflektorische Zeichen auf. Dies können Anzeichen für eine Schwäche bzw. „bevorstehende“ Erkrankung des entsprechenden Organs sein. Zu Beginn können eine veränderte Schweißsekretion, eine Vasokonstriktion bzw. Dilatation der Gefäße und somit eine veränderte Hauttemperatur festgestellt werden. Im weiteren Verlauf zeigen sich häufig algetische Krankheitszeichen in dem betreffenden Hautareal. Erst später im Krankheitsverlauf folgt der eigentliche Organschmerz.
Zu den vegetativ-reflektorischen Zeichen zählen die segmental veränderte Schweißsekretion und Vasomotorik, die Piloarrektion („Gänsehaut“), Veränderungen der Pupillen, der Gesichtsmuskulatur und der Körperhaltung und -bewegung.
Zu den algetischen Zeichen lassen sich eine Schonhaltung sowie eine Hyperalgesie der Haut (Head-Zonen) und der Muskulatur (Mackenzie-Zonen) zählen. Hierzu gehören auch Palpations- und Berührungsempfindlichkeiten. Häufig zeigen diese Zonen schmerzhafte Maximalpunkte, die sich individuell unterscheiden.
Taping bei chronischen Schmerzen
Bei chronischen Schmerzen hat sich das Taping als eine unterstützende und sehr hilfreiche Behandlungsmethode erwiesen.
Liegen chronische Schmerzen des Bewegungsapparats vor, sind immer die möglichen vorhandenen Bezüge zu Pathologien der inneren Organe bei der Behandlung einzubeziehen, die sich aus vorhandenen pathologischen Mustern (z. B. Head- und Mackenzie-Zonen) ableiten lassen (Quellen: Radloff K. Die chinesische Medizin kennt keine orthopädischen Krankheiten. Ideen und Lösungsansätze für Patienten und ihre Behandler. Norderstedt: Books on Demand; 2016; Schimmel HW. Pathogenetische Grundmuster und Kausalketten. Gießen: Pascoe pharmazeutische Präparate GmbH; 1989; Wancura-Kampik I. Segment-Anatomie. Der Schlüssel zur Akupunktur, Neuraltherapie und Manualtherapie. 3. Aufl. München: Urban & Fischer/Elsevier; 2010).
Da es sich aus Sicht der TCM bei chronischen Schmerzen um eine Leere handelt, kann mit einem roten Tape gearbeitet werden. Auf Grundlage der Wandlungsphasen können zudem die Farben des jeweiligen Elements genutzt werden (z. B. ein gelbes Tape bei der Behandlung der Magenleitbahn, da diese dem Element Erde und damit der Farbe Gelb zugeordnet ist).
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